Aktenzeichen: 2 BvR
1104/05
Entscheidung vom: 21.
März
2006
BUNDESVERFASSUNGSGERICHT
Im Namen
des Volkes In
dem Verfahren über die
Verfassungsbeschwerde
des
Herrn S…
- Bevollmächtigte:
gegen
a) den Beschluss des Amtsgerichts
Oranienburg vom 26. Mai 2005 - 21 C 3/05 -,
b) das Urteil des Amtsgerichts
Oranienburg vom 11. März 2005 - 21 C 3/05 -
hat die 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch
en Vizepräsidenten Hassemer,
die Richter Di Fabio
und Landau
gemäß § 93c in Verbindung mit
§§ 93a, 93b
BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I
S. 1473) am 21. März 2006 einstimmig beschlossen:
Das Urteil vom 11. März 2005 - 21 C 3/05 – und der
Beschluss
vom 26. Mai 2005 - 21 C 3/05 des Amtsgerichts Oranienburg verletzen den
Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Artikel 3 Absatz 1
und
Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes.
Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht
zurückverwiesen.
Das Land Brandenburg hat dem Beschwerdeführer seine
notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft überwiegend Fragen des
rechtlichen Gehörs in einem beim Amtsgericht
geführten
Zivilrechtsstreit.
1. Der Beschwerdeführer beantragte beim Amtsgericht den Erlass
eines Mahnbescheids aufgrund einer behaupteten Honorarforderung in
Höhe von 85,80 Euro. Auf den Widerspruch des Schuldners
(Beklagter
des Ausgangsverfahrens) beantragte der Beschwerdeführer die
Durchführung des streitigen Verfahrens und begründete
den aus
seiner Sicht bestehenden Zahlungsanspruch unter Erbietung des
Zeugenbeweises. Nach der Anforderung des Gerichtskostenvorschusses und
der Abgabe des Rechtsstreits an die Zivilabteilung des Amtsgerichts
bestimmte der zuständige Richter mit Verfügung vom 6.
Januar
2005 die Durchführung des schriftlichen Vorverfahrens.
2. Nach Eingang der Klageerwiderung vom 17. Januar 2005, mit der der
Beklagte die Forderung bestritt, beschloss der Richter, nach §
495a ZPO ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, und setzte
dem
Beschwerdeführer eine Frist zur Replik bis zum 25. Februar
2005.
Gleichzeitig ordnete er an, den Beschluss und eine Abschrift der
Klageerwiderung an den Bevollmächtigten des
Beschwerdeführers
mittels Empfangsbekenntnis zuzustellen.
3. Obwohl kein unterschriebenes Empfangsbekenntnis als Nachweis der
bewirkten Zustellung im Rücklauf zur Gerichtsakte gelangt war,
wies der Richter mit Urteil vom 11. März 2005 die Klage im
schriftlichen Verfahren ab. In den Entscheidungsgründen
führte er aus, dass der Beschwerdeführer seiner
Verpflichtung
nicht nachgekommen sei, auf die qualifizierte Erwiderung des Beklagten
einen geeigneten Beweis anzutreten.
4. Nach Zustellung des Urteils erhob der Bevollmächtigte des
Beschwerdeführers am 19. April 2005 die
Gehörsrüge. Eine
Entscheidung durch Urteil sei im Verfahrensstadium des schriftlichen
Vorverfahrens prozessual unzulässig, eine hiervon abweichende
Verfahrensweise gemäß § 495a ZPO jedenfalls
nicht
bekannt gegeben. Überhaupt seien ihm im laufenden Verfahren
bislang nur die Anforderung des Kostenvorschusses, die Anzeige
über die Abgabe des Verfahrens an die Zivilabteilung und die
über die Durchführung des schriftlichen Vorverfahrens
übermittelt worden. Deshalb stelle sich die
Begründung im
Urteil vom 11. März 2005, wonach er versäumt habe,
auf die
qualifiziert bestrittene Forderung einen geeigneten Beweis anzutreten,
als überraschend dar, zumal in der Klageschrift
ausdrücklich
ein Zeugenbeweis angeboten worden sei.
5. Am 21. April 2005 nahm der Bevollmächtigte des
Beschwerdeführers Einsicht in die Gerichtsakten und beantragte
mit
Schriftsatz vom 18. Mai 2005 die Übersendung des
verfahrensleitenden Beschlusses und der Klageerwiderung. Ohne diese
Unterlagen sei eine Stellungnahme zur Erwiderung des Beklagten auf die
Gehörsrüge nicht möglich.
6. Stattdessen wies das Amtsgericht durch Beschluss vom 26. Mai 2005
die Gehörsrüge mit folgender Begründung
zurück:
"Der Schriftsatz des Beklagten vom 17.01.2005, auf dem die gerichtliche
Entscheidung beruht, ist den Klägervertretern unter dem
26.01.05
übersandt worden, das Schreiben ist nicht an das Gericht
zurückgesandt worden, so dass sie in ihrem Anspruch auf
rechtliches Gehör nicht verletzt sind."
7. Die hiergegen erhobene Gegenvorstellung vom 13. Juni 2005, mit der
der Beschwerdeführer nochmals aus seiner Sicht den
Verfahrensgang
schilderte, die unverständliche Begründung des die
Gehörsrüge zurückweisenden Beschlusses
beanstandete und
Akteneinsicht beantrage, verfügte der zuständige
Richter ohne
weitere Veranlassung zu den Akten.
II.
1. Mit seiner fristgerecht erhobenen Verfassungsbeschwerde
rügt
der Beschwerdeführer die Verletzung seiner Rechte aus Art. 3
Abs.
1 und Art. 103 Abs. 1 GG.
a) Das Amtsgericht habe ihm die Klageerwiderung, auf deren Inhalt das
Urteil vom 11. März 2005 erkennbar beruhe, nicht zur
Kenntnisnahme
und zur möglichen Stellungnahme übermittelt. Des
Weiteren
habe er vor Erlass des Urteils keine Kenntnis vom Inhalt des
Beschlusses, der die Verfahrensweise gemäß
§ 495a ZPO
angeordnet habe, erlangt, mithin nicht bis zu der auf den 25. Februar
2005 gesetzten Frist ergänzend vortragen oder sein
Beweisangebot
erneuern können.
b) Die Zurückweisung der Gehörsrüge trotz
dezidierter
Darstellung der prozessualen Situation und des bewusst gemachten
Umstands, dass verfahrensrelevante Schriftsätze und
Verfügungen ihn nicht erreicht hätten, sei
willkürlich
und verletze erneut den Anspruch auf rechtliches Gehör.
2. Das Ministerium der Justiz des Landes Brandenburg hat in einer
Stellungnahme den beschriebenen Verfahrensablauf bestätigt, im
Übrigen von einer rechtlichen Bewertung abgesehen. Der
Beklagte
des Ausgangsverfahrens hat von der Möglichkeit zur
Stellungnahme
keinen Gebrauch gemacht.
III.
Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil
dies zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers
gemäß § 90 Abs. 1 BVerfGG angezeigt ist
(§§
93a Abs. 2 Buchstabe b, 93b Satz 1 BVerfGG). Die Verfassungsbeschwerde
ist offensichtlich begründet. Das Bundesverfassungsgericht hat
die
hier maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits
entschieden (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).
1. Die angegriffenen Entscheidungen des Amtsgerichts verletzen den
Beschwerdeführer in seinem grundrechtsgleichen Recht aus Art.
103
Abs. 1 GG.
a) Diese Vorschrift gewährleistet jedem Verfahrensbeteiligten
einen Anspruch darauf, sich vor dem Erlass einer gerichtlichen
Entscheidung zu dem ihr zugrunde liegenden Sachverhalt zu
äußern (vgl. BVerfGE 67, 39 <41>; 69,
145 <148>;
89, 381 <392>; 101, 106 <129>; stRspr). Die
Gelegenheit zur
Äußerung muss daher grundsätzlich zu jedem
dem Gericht
unterbreiteten Vortrag eingeräumt werden, soweit er
für die
Entscheidung erheblich ist (vgl. BVerfGE 19, 32 <36>; 49,
325
<328>; 89, 381 <392>). Dementsprechend darf
das Gericht nur
solche Tatsachen verwerten, zu denen sich die Verfahrensbeteiligten
vorher äußern konnten (vgl. BVerfGE 70, 180
<189>;
101, 106 <129>). Für das Gericht
erwächst aus Art. 103
Abs. 1 GG ferner die Pflicht, vor dem Erlass seiner Entscheidung zu
prüfen, ob den Verfahrensbeteiligten das rechtliche
Gehör
auch tatsächlich gewährt wurde. Insbesondere dann,
wenn dem
Gebot des Art. 103 Abs. 1 GG durch die Übersendung von
Schriftsätzen genügt werden soll, hat das Gericht
–
etwa durch förmliche Zustellung oder Beifügen einer
rückgabepflichtigen Empfangsbescheinigung – zu
überwachen, ob die Verfahrensbeteiligten in ihren Besitz
gelangt
sind (vgl. BVerfGE 36, 85 <88>; 42, 243
<246>; 50, 280
<285 f.>).
b) Mit diesen Grundsätzen stehen die angegriffenen
Entscheidungen
des Amtsgerichts nicht in Einklang. Das Urteil gegen den
Beschwerdeführer erging am 11. März 2005, obwohl der
Zugang
der Klageerwiderung und der der Anordnung des (vereinfachten)
schriftlichen Verfahrens nicht durch den Rücklauf des
Empfangsbekenntnisses zur Gerichtsakte festgestellt werden konnte. Nach
den Entscheidungsgründen stützte der Amtsrichter die
Klageabweisung zudem alleine auf den Inhalt der Klageerwiderung, mit
der der Beklagte den anspruchsbegründenden Vortrag des
Beschwerdeführers qualifiziert bestritten hätte.
Dieser Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG setzt sich fort in
dem
Beschluss vom 26. Mai 2005, mit dem das Amtsgericht die
Gehörsrüge des Beschwerdeführers
zurückwies.
2. Die amtsgerichtlichen Entscheidungen stehen darüber hinaus
nicht in Einklang mit Art. 3 Abs. 1 GG. Die Annahme des Amtsgerichts,
es könne durch Urteil im Verfahren nach § 495a ZPO
ohne
mündliche Verhandlung entscheiden, obwohl der Zugang des
Beschlusses vom 25. Januar 2005, der diese Verfahrensweise anordnet,
dem Beschwerdeführer nachweislich nicht zugegangen ist, ist
ebenso
willkürlich wie die unverständliche
Begründung im
Beschluss vom 26. Mai 2005. Für beide Ansichten lassen sich
keine
sachlichen Gründe finden, die mit zivilprozessualen
Grundsätzen in Einklang stehen.
3. Den aufgezeigten Grundrechtsverstößen kommt
besonderes
Gewicht zu. Sie beruhen auf einer groben Verkennung des durch die
Verfassung gewährten Schutzes, auf einem leichtfertigen Umgang
mit
den grundrechtlich geschützten Positionen und verletzen damit
in
krasser Form rechtsstaatliche Grundsätze (vgl. BVerfGE 90, 22
<25>). Dem zuständigen Richter mag
zunächst bei Erlass
des Urteils noch eine als einfaches Versehen zu qualifizierende
Nachlässigkeit unterlaufen sein, als er die Klage unter
Berufung
auf den Inhalt der Klageerwiderung abwies, ohne deren Zugang an den
Beschwerdeführer anhand eines rückläufigen
Empfangsbekenntnisses überprüft zu haben.
Spätestens
aber auf die ausführlich begründete
Gehörsrüge
musste sich ihm – nicht zuletzt aufgrund der einfach zu
durchdringenden Sachlage und der ohne Aufwand möglichen
Nachprüfung anhand des Akteninhalts – das Vorliegen
eines
Gehörsverstoßes aufgedrängt haben. Dass er
gleichwohl
dem Beschwerdeführer nicht nur die grundgesetzlich gebotene
Korrektur seiner Fehlleistung, sondern auch eine dem
Grundrechtsverstoß angemessene Begründung des
erhobenen
Rechtsmittels versagte, lässt den Rückschluss auf
eine
schwerwiegende Vernachlässigung verfassungsrechtlich
geschützter Grundwerte zu. Das Amtsgericht
verstößt
hier gröblich gegen die mit der Verfahrensgarantie des Art.
103
Abs. 1 GG verbundenen Erwartungen der Bürger, sich zur
Streitbeilegung auf das staatliche Rechtsschutzsystem verlassen zu
können.
4. Das klagabweisende Urteil und der die Gehörsrüge
zurückweisende Beschluss beruhen auf der objektiv
willkürlichen Sachbehandlung. Zudem kann nicht ausgeschlossen
werden, dass das Amtsgericht anders entschieden hätte, wenn
der
Beschwerdeführer auf die Bekanntgabe der Klageerwiderung und
der
Anordnung des vereinfachten Verfahrens seinen Vortrag, wie in der
Verfassungsbeschwerde-Schrift bezeichnet, substantiiert hätte.
Damit beruhen die Entscheidungen auch auf der Verletzung des Art. 103
Abs. 1 GG.
5. Gemäß § 34a Abs. 2 BVerGG sind dem
Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.